Lydia Mammes: Malerei

In den Bildern von Lydia Mammes sieht man nichts anderes als Malerei. Sie sind abstrakt, insofern sie nichts gegenständlich Benennbares hervorbringen. Es geht der Künstlerin allerdings nicht um eine bloße Konkretion der malerischen Mittel, etwa der Farbe, ihrer Faktur oder ihres Auftrags. Lydia Mammes vermeidet gewissermaßen beides: das Bild, das durch die Farbe hindurch zum Abbild vordringt, ebenso wie einen analytischen Ansatz, der Farbe und Bildlichkeit auf ihre materiellen und phänomenalen Eigenschaften hin untersucht. Ihre Malerei entwickelt sich auf einem schmalen Grat zwischen diesen Möglichkeiten einer dem Wiedererkennen von Dingen und Situationen geschuldeten Bildlichkeit und der Behauptung vollkommener bildnerischer Autonomie. Mag dieser Zwischenraum der Malerei nicht so leicht fassbar sein, so erschließt sich ihr prozessuales Wesen wohlgleich unmittelbar. Hervorbringung, Negation und Transformation von Sichtbarkeit sind in diesen in mehreren Schichten aufgebauten Gemälden verschiedene Aspekte desselben Vorgangs. Dabei exponieren die Bilder zugleich ihre eigene Entstehungsgeschichte; sie erlauben gewissermaßen einen Blick in ihre Historie.

In einer Vielzahl von Werken der letzten Jahre vermitteln sich die Überlagerungen der Farben, Flächen, Formen und Gesten auf mindestens zwei kategorial verschiedene Weisen. Zum einen arbeitet Mammes überwiegend mit dünnflüssigen Lasuren, die unterliegende Farbschichten durchscheinen lassen. So entstehen nicht nur neue Mischungen der Farbe, es stellt sich auch immer wieder der Eindruck einer eigentümlichen Bildtiefe ein. Zum anderen sind die Überlagerungen oftmals nicht flächendeckend aufgetragen, um stattdessen in unterschiedlicher Entfernung zu den Bildkanten zu enden. So bleiben tiefer liegende Schichten offen stehen.

ohne Titel 2013

Ohne Titel, 2013
Acryl auf MDF, 100 x 100 cm

In manchen Bildern kommen in diesen Zonen unvermutet viele verschiedene Farbtöne zum Vorschein; so etwa in einem Bild Ohne Titel von 2013. Während die Bildmitte des quadratischen Formats von einer hellen, gelb- und beigefarbenen Übermalung dominiert wird, steht an den seitlichen Bildrändern strahlendes Orange neben tiefem Purpur, Braun, Gelb, Beige und weiteren Farben. Man könnte fast meinen, die malerischen Attraktionen hätten sich hier vollends an den Rand verlagert. Einer anhaltenden Betrachtung aber erweist sich die Mitte des Bildes als nicht minder ereignisreich, sieht man doch mehr und mehr in den helleren Tönen die unterliegenden strömenden Farbbahnen aufscheinen. Dieser Prozesse vollzieht sich im Vergleich mit jenen geradezu flammenden Randzonen langsamer, ja gedehnter. Es handelt sich, wenn man so will, um einen Blick in die Tiefe des Bildes als in eine transformativen, fließenden Raum, in dem alles mit allem verbunden scheint.
Klarheit und Vagheit, Distinktion und Verschmelzung, Unmittelbarkeit und zeitliche Dehnung mögen als Begriffspaare helfen, sich der anschaulichen Komplexität solcher Bilder sprachlich anzunähern. Es bleibt aber zu bedenken, dass eben das, was in der Analyse geradezu notgedrungen trennscharf unterschieden wird, im Bild vielfach ineinander übergeht oder dicht ineinander verwoben bleibt. Der Kristallisationsgrad solcher malerischen Pole hängt bei Mammes vielleicht vor allem davon ab, an welchem Punkt die Künstlerin diesen malerischen Überlagerungs- und Wachstumsprozess beendet und womöglich auch abbricht. Jedenfalls begegnen wir in ihrem Œuvre einerseits Arbeiten in denen die Synthese des Bildganzen sehr weit vorangeschritten erscheint, während in anderen, wie oben beschrieben, unterschiedliche Stadien sichtbar bleiben.

ohne Titel 2013

Ohne Titel, 2013
Acryl auf Leinwand, 180 x 180 cm

Letzteres gilt für ein weiteres 2013 entstandenes Bild, das zu mehr als zwei Dritteln mit einer hellblauen Flächenform bedeckt ist. Während dieses helle Blau in der oberen Bildhälfte diffus wirkt und an manchen Stellen wie in Auflösung begriffen ist, endet dieselbe Fläche parallel zum unteren Bildrand mit einer größtenteils klaren, sanft geschwungenen Kante. Im Unterschied zu den eher schwelenden räumlichen Verhältnissen oben, herrscht in diesem unteren Bildbereich größere Differenziertheit vor. Ohne auf gegenständliche Eindrücke abzuzielen tendiert die Bildlichkeit hier zu einer Form der Fassbarkeit, die dem Dinglichen nahe kommt. Das betrifft zunächst die blaue Fläche selbst, die sich wölbt und gleichsam vor einem vielfarbigen Hintergrund schwebt. Ferner mag sich damit die Vorstellung verbinden, der ‚Farbvorhang’ könne weichen und den Blick auf ein dahinterliegendes Szenario freigeben.

Solche erzählerischen oder imaginativen Potenziale werden von Lydia Mammes jedoch nie vorausgeplant, sie ergeben sich vielmehr, manchmal fast zwangsläufig, im bildnerischen Prozess; und man ahnt, dass die Malerin den Möglichkeiten und Reizen solcher malerischen Ausblühungen keineswegs erlegen ist. Im übertragenen Sinne gesprochen, öffnet sie in der Bildfläche immer nur einen schmalen Spalt, durch den sie solche Illusionismen herein lässt: Diese klingen an, scheinen auf oder überziehen das Bild mit einem Hauch der Imagination, sie bleiben aber gebunden im bildnerischen Material. Dabei ist es bezeichnend, dass Mammes in ihren Bildern möglichst unprätentiöse, bisweilen fast pragmatische Malweisen wählt und als solche auch herausstellt. Das können ‚Anstriche’ mit der Rolle sein, deren Bahnen gleichmäßig oder versetzt einen Teil der Bildfläche bedecken, oder auch wie wässrig anmutende Pinselbahnen, die in regelmäßiger Folge oder in weichen Schwüngen hin und her fahren. Selbst wenn die Farbe in langen Nasen am Bildträger herunter fließt, schlagen die Malhandlungen nicht in bloße Expression um. Wie beim Abwischen einer Tafel oder beim Reinigen eines Fensters betonen sie unablässig die Fläche, auf der sie sich vollziehen. Diese selbst ist anfangs lediglich ein leeres Rechteck, ein Quadrat, das weder wie ein Hochrechteck als Analogon zum Betrachter aufgefasst werden könnte, noch wie ein Längsrechteck den Horizont in Erinnerung ruft und dadurch allzu leicht landschaftliche Assoziationen auslöst. Auch die spröde Materialität der MDF-Platte, die Mammes außer bei sehr großen Formaten durchgängig als Bildträger wählt, ist als sachliches Element in der Malerei spürbar; mitunter bleibt die unbehandelte braune Platte sogar offen stehen. Es liegt eine große Poesie in der Weise, wie die Malerei auf diese Voraussetzungen eingeht und den Blick zugleich in einen ebenso differenzierten wie emotionalen Raum der Farbe und des Lichts überführt.

Die Mitte eines Augenblicks, 2011

Die Mitte eines Augenblicks, 2011
Acryl auf Leinwand, 200 x 200 cm

Ein enormes Leuchten der Farbe scheint in einem großformatigen Gemälde von 2011 entfacht. In der Bildmitte wölbt sich hier ein heller, fast giftig wirkender gelblich-grüner Lichtkörper nach vorn.
Es ist als durchdränge er mit seiner enormen Präsenz die nebelhaften Farbschlieren an den Seiten und die von oben herabgeflossenen Lasuren. So zumindest könnte auch der Titel der Arbeit gedeutet werden: „Die Mitte eines Augenblicks“.

In einem der jüngsten Werke von 2015 dagegen erzeugt Mammes ein weniger lautstarkes aber nicht minder intensives inneres Bildlicht. Erst nach einiger Zeit nimmt man in den petrolfarbenen Vermalungen, die auf einem dunkleren Grund ihrerseits eine tiefe Leuchtkraft entfalten, hellere grünliche Erscheinungen wahr. Diese Lichtphänomene erzeugen gerade aufgrund ihrer Vagheit einen ständigen Reiz – gewissermaßen eine Art Ahnung, die sich in der nächtlichen Atmosphäre dieses Gemäldes ausbreitet. Es sind solche Momente einer andauernden malerischen Transformation, denen man in den Bildern von Lydia Mammes immer wieder begegnet: Einer ruhigen, insistierenden malerischen Energie, die in dem Augenblick ihres Gesehenwerdens wohl am ehesten als Zustand beschrieben werden kann, so ausgedehnt dieser auch sein mag.

ohne Titel 2013

Ohne Titel, 2013
Acryl auf MDF, 150 x 150 cm

Thomas Janzen, April 2015